Leben mit Silber
Becher? ... ja, Becher!
In seinem Standardwerk „Gebrauchssilber 16. bis 19. Jahrhundert" schreibt der Fachmann Alain Gruber: „Der Becher ist der einfachste und am weitesten verbreitete Gegenstand aus Edelmetall. …“. So weit, so richtig. Gäbe es da nicht den „großen Bruder“ des Bechers, den Pokal (worauf Alain Gruber natürlich auch eingeht). Trinkgefäße, teils von beachtlicher Größe, die in früher Zeit ausschließlich den Herrschern und der Kirche vorbehalten waren. Im 16. Jahrhundert eroberten diese Trinkgefäße – nicht zuletzt wegen des Verfalls des Silberpreises und dem Verlust kirchlicher Aufträge - den bürgerlichen Markt. Da der Süden Europas Trinkgefäße aus Glas bevorzugte, wurden auch diese fantasievollen Pokale vor allem in Nordeuropa geschaffen. Bei dieser „Monumentalform“ des Beches, konnten sich Einfallsreichtum und das künstlerische Können der Silberschmiede frei entfalten.
Auch große Ornamentisten jener Zeit lieferten den Goldschmieden einfallsreiche Entwürfe.Die prachtvollsten Zeichnungen zu Pokalen stammen von Dürer, Holbein, aber auch Stefano della Bella und vom berühmten, niederländischen Silberschmied Adam von Vianen. Die Freude an immer ausgefalleneren Formen entstand wohl zur Zeit der Herzöge von Burgund in Antwerpen. Durch die Religionskriege aus Flandern und Frankreich vertrieben, kamen viele Protestanten (und damit Goldschmiede) nach Nürnberg und Augsburg, Städte, in denen die Goldschmiedekunst, Handwerk, Kunst und Architektur maßgeblich beeinflusste. Hier entwarfen flämische und deutsche Goldschmiede des Barocks dann auch die berühmten Trinkgefäße in menschlicher, tierischer und architektonischer Form. Diese Trinkspiele und Scherzgefäße waren dann auch mehr Skulpturen und Tafelzier, denn Becher. Trinkspiel ist ein Ausdruck, der in keine andere Sprache übersetzbar ist und damit auch zeigt, dass weder Frankreich noch der Rest des südlichen Europas diese traditionellen Meisterwerke der Goldschmiedekunst übernahmen. So stammen aus den Niederlanden Pokale in Form von Windmühlen, Frauenfiguren mit weiten Röcken und, eine Spezialität aus Nürnberg und Augsburg, Tiere, Fabelwesen und Schiffe, dekorative Becherskulpturen, die bei den Banketten jener Zeit größtes Vergnügen bereiteten. „Becher“ aus der Renaissancezeit gibt es auch heute noch vereinzelt zu kaufen. Gerade eben zeigt ein Heilbronner Auktionshaus Schätze aus dieser Zeit – Aufrufpreise bis über 100,000,- Euro. Wesentlich jünger, aber teils nicht minder fein und detailgetreu gefertigt sind die Nachbildungen dieser Renaissance-Objekte aus dem Historismus - zu annehmbaren Preisen. Auf dem linken Bild sehen Sie einen Scherzbecher in Windmühlenform, eine fast perfekte Nachbildung des musealen Windmühlenbechers von Georg Christoph Erhard aus Augsburg 1595 - 1600, rechts daneben der Historismusbecher aus den Niederlanden um 1890. Der Becher ist auch ein sogenannter Sturzbecher, da er nicht auf den Kopf gestellt werden kann, sondern, einmal befüllt, ohne Absetzen ausgetrunken werden muss, Er hat viele wunderbare Details, die dem Original in nichts nachstehen: Die Kuppa reich verziert in Wabentechnik und einem floral gravierten Lippenrand. Das Oberteil zeigt eine Windmühle, Windmühlenräder und Uhr sind beweglich, einen Bauern, der der Treppe hinaufsteigt und der Müller, der aus dem Fenster schauend, den Besucher begrüßt. Wie seine Vorgänger, ein kleines Meisterwerk.
In der Mitte sehen Sie einen jagdlichen Sturzbecher aus Russland. Ursprung für diese jagdlichen Becher war der englische stirrup cup aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Der Name stirrup cup, also Steigbügel-Becher kommt daher, dass diese Becher, meist gefüllt mit warmem Wein, vor einer traditionellen Parforcejagd, eine Jagd zu Pferde mit Hundemeute, zur Stärkung dem Reiter gereicht wurde, als er bereits auf dem Pferd saß, seine Stiefel also schon in den Steigbügeln steckten. Diese barocken stirrup cups waren Gefäße in Form von Hunden- Hasen- oder Wolfsköpfen, die mit einem Lippenrand versehen wurden. Auch diese konnten nicht mit der Öffnung nach oben gestellt werden, der Becher musste in einem Zug geleert werden. Unser Jagdbecher aus der Zeit 1882 bis 1898 ist so gearbeitet, dass er sehr wohl mit der Öffnung nach oben abgestellt werden kann. Auch die später aufkommenden
Sturzbecher im jagdlichen Gewand, sind für die Tafeln konzipiert worden, konnten also auf dem Kopf oder dem Geweih mit dem Becher nach oben gedeckt werden. Siehe im Magazin: „Prachtvoll gedeckt". Ein hübsches und preiswertes Beispiel für diese Becher ist der Sturzbecher mit dem Hundekopf, ein versilberter Becher, für alle, für die auch dieser Becher ein „Scherzbecher“ ist. Der russische Becher ist außergewöhnlich detailverliebt gefertigt: Auf dem Rand sind platisch ausgearbeitet Jagdszenen im Wald mit Reitern, Hunden und Hirsch zu sehen, das, je nach dem, Ober- oder Unterteil schmücken Jagdhorn, Reiterkappe, Satteltasche und Feldflasche. Ungewöhnlich oder besser gesagt recht selten zu sehen ist die Marke auf diesem Becher. Es handelt sich um die russische Importmarke, die 1882 eingeführt wurde und bis 1898 galt. Sie zeigt den Silberfeingehalt, hier 91 Zolotniki, in metrischer Angabe 946,4/1000, die Stadtmarke, ich erkenne die Marke der Stadt Twer, sowie die kyrillischen Buchstaben пт als Abkürzung für „Importierte Waren“.
Der Hahn rechts im Bild, ist eines von diesen besonders beliebten Scherzgefäßen in Tierform- vom Bär, über Löwe, Pferd Hirsch, Eule, Biber, Eichkätzchen bis zum Affen oder Vogel Strauß, alles was in der Tierwelt auf 2 oder vier Beinen stand, wurde kunstvoll in Silber nachgebildet. Wie all diese „Tiere“ hat auch der Hahn einen abnehmbaren Kopf, zudem sind seine Flügel beweglich. Ob man aus dem kopflosen Hahn tatsächlich trinken möchte – nun, das kann jeder für sich selbst entscheiden, ich nehme die Tier-Trinkgefäße gerne als „kleine Karaffen“ für Likör oder Schnaps zum Kaffee, nachdem er während des Essens als originelle Tafelzier bestaunt und bewundert, die Tafel bereichert hat. Es ist kein Zufall, dass so ein prachtvolles Silberobjekt in einer Silberwerkstatt in Hanau gemacht wurde, die sich, wie fast alle Silbermanufakturen in dieser Stadt, auf Objekte im Stil vergangener Epochen spezialisiert hatte und diese teilweise auch mit traditionellen Werkzeugen in aufwändiger Handarbeit herstellte.
Neben den Pokalen zu denen die Trinkspiele, Scherz- und Sturzbecher gehören haben auch manche „normale“ Becher" mit ganz außergewöhnlichen Attributen aufzuwarten. Da die Formenvielfalt beschränkt war, punkteten diese Becher mit besonderen Dekoren: Gravuren, Schlangenhaut, Niello – und Emailarbeiten und vieles mehr.

Ein Paradebeispiel für einen fantasievoll gestaltete Becher ist dieser Vermeilbecher aus Schweden wohl des 18. Jahrhunderts, dessen Außenwandung mit 48 Achat-Kameen verziert wurde. Das in der Edelsteinschneidekunst verwendete Material dafür sind Langensteine. Sie werden aus Achaten mit ebenen, parallellaufenden Bändern geschnitten, meist in zweischichtigen Lagensteinen graviert, wobei die Kombination von schwarzer Grundschicht und weißer Oberlage Onyx heißt. Der Name Onyx kommt aus dem Griechischen und bedeutet "Fingernagel", weil es eine durchscheinende Beschaffenheit hat. Es bedarf Können, Erfahrung, Steinkenntnis und technische Perfektion der Graveure, um als Endprodukt Kameen von dieser meisterhaften Präzision, wie auf diesem Becher, zu erhalten. Auch der Silberschmied zeigt all sein Können an diesen Becher: Die feine, gleichmäßige Ornament - Ziselierung und die ebenmäßigen „Rahmen“ für die Kameen.

Und dann gibt es noch die teils kuriosen, teils recht praktischen Becher, wie die Doppelbecher, als Fassbecher oder Doppelpokale, loving cups mit zwei Henkeln und die Reisebecher als Teleskopbecher, die so klein zusammengeschoben werden können, dass sie in die Hosentasche passen.
Sie sehen, Becher ist nicht gleich Becher. Interessant zu wissen, welcher zu Ihrem Lieblingsbecher gehört.



